Vor der Schule ein Bauwagen
voller Automaten, Schweiß und Motoröl.
Entenjagd, Slalomlauf, Donkey Kong.
Nach Hause gerannt
Sparschwein geschlachtet
Eltern geplündert
Schwester beklaut
Puls bei 200
Vermögen bei 15
Mark Ost.
Zurück in die Bude:
Bunte Pixel rösten
grauen Sozialismus
aus Kinderhirnen.
Sterben fetzt nur
solange du noch
‘nen Fuffi in der Tasche
zum Nachlegen hast.
Klassenkampf vergessen,
Hausaufgaben sowieso.
Die Großen hauen den Kleinen
für ‘ne Mark aufs Maul
oder lassen es bleiben
für zwei.
Dachte, die Kohle hält ewig
Ein paar Münzen Andy gegeben
Macht man so, unter Freunden
dachte ich.
Nach einer Stunde
war ich blank
Bin nie übers zweite Level
hinaus gekommen und
später auf die
andere Seite der Welt gezogen
(1 Stunde mit der Straßenbahn,
Toilette innen, warmes Wasser,
neue Menschen, and’re Regeln).
Alte Mauern fielen
Neue Kinder kamen und mit
ihnen: Neue Spiele.
Andy wiedergesehen.
Keine drei Sätze miteinander gesprochen
Er war mit Kollegen unterwegs,
Richtigmacher, die es ernst meinten,
immer schon, ohne
Schweiß und Motoröl.
Klimpert Finger in der Luft:
»…und mache Musik«.
Hat wohl rausgefunden, wie man
ans Ziel kommt,
wenn der Boden schlammig ist.
Ich stand da.
Taschen wieder leer.
Affe unbesiegt.
Die alte Frau saß auf einer Parkbank und beobachtete die vorbei gehenden Menschen. Hätte man sie nur aus dem Augenwinkel gesehen, wäre man zu dem Schluss gekommen, dass sie nur belanglos vor sich hin nuschelte. Doch ihr leerer Mund schleuderte den Leuten, die ohne Blick für sie ihrer Wege gingen, keinen Fluch oder wirren Ekel entgegen. Sie war keine dieser verbitterten Mumien, deren Verstand langsam aber sicher verdorrte. Es war viel schlimmer: Sie sagte die Wahrheit. Und niemand hatte ein Ohr dafür.
Einmal schlenderte ich beinahe an ihr vorbei. Da bemerkte ich, dass sie eine Pause machte. Wir nickten uns zu, sie machte mir neben sich Platz und bot mir ein Lächeln an. Ich erwiderte. Neue Fußgänger näherten sich. Das Spiel begann.
„Jenau 10 Tage und 22 Monate und vier Tage“, schickte sie einem Pärchen hinterher. „72 Jahre“, gab sie einem Kind mit. „24 Wochen und 7 Jahre“ erhielten ein Mann und sein Hund.
Nach einer Weile fragte ich, was das alles solle. „Ick weeß, wann’se möchten wern sterben.“, erwiderte sie. Ganz ruhig. Als hätte ich sie nach etwas Banalem wie dem Wetter gefragt.
„Können sie das so genau wissen? Oder überhaupt?“
„Das is eben dat Jeheimnis. Willste wissen, wie’s funktioniert? Simmer schon zwe’e. Manche Dinge wolln eben passiern wie se wolln. Mir is das einfach so im Kopp. Hab mir das nich ausjesucht.“
„Woher wissen sie, dass sie Recht haben?“. Die Frage nach meinem Datum schluckte ich schnell runter.
„Wissen tu ick ja gar nüscht. Is aber ooch nich schlimm. Kamma nix machen, wat?“
Klare Ansage. Ich verstand nichts und schaute wohl auch etwas dämlich drein.
„Einfach nur Jeduld, Jüngelchen.“
Schnell hatte sie einen Mann entdeckt, der durch den Park spazierte. Sie zeigte auf ihn, drehte sich zu mir um. „Drei. Minuten.“ Ein schiefes Grinsen huschte durch ihre Runzeln. Vielleicht sogar Stolz.
Ich schaute auf meine Uhr: 9 Uhr und 44 Minuten. Jener Mann, der von ihrem Fingerzeig nichts ahnte, gestikulierte mit seinem Smartphone herum, als müsse er einen Bienenschwarm vertreiben. Seine Wut schepperte lautstark durch den ganzen Park. Anscheinend faltete er gerade einen Angestellten zusammen, der unerwartet nicht auf Arbeit erschienen war. Er drohte ihm damit, ihn an den Ofen versetzen und seinen gesamten Wochenlohn einbehalten zu wollen. Abrupt blieb er stehen. Sein Gegenüber hatte wohl einfach aufgelegt. Kurz darauf brach er zusammen. Pünktlich auf die Sekunde.
Eine tiefe Angst würgte mir ein paar Töne aus dem Hals. Eventuell klang es wie „Warum helfen sie den Leuten nicht?“
„Helfen? Wobei denn?“
„Zu überleben, verdammt nochmal! Da stirbt jemand vor ihren Augen und sie schauen einfach nur zu. Wie kann sie das kalt lassen?“
„Sie wissen doch, was ihnen bevorsteht. Das wissen wir alle. Das weißt du auch.“
„Man kann doch aber Hilfe holen! Einen Arzt oder sowas! Wenn die Leute wissen, was ihnen droht, können sie sich vielleicht noch retten lassen!“
„Eben nicht. Das hab ick ein einzijes Mal jemacht. Da habense mir ausjelacht. Der Schloderer, dem hab ick jesacht, dass er nur noch zwei Wochen saufen kann und aus isset. Da hat der sich ein Messer geschnappt und mittenmang in Hals rinn jestochen. War besoffen wie nix Jutes. Wollt mir wohl wat beweisen.“
Jetzt hatte ich sie: „Da haben sie sich also geirrt. Oder haben sie so eine Quote – Bei zehn Leuten klappt’s und für die restliche Million eben nicht? War mir doch sofort klar, dass das alles nur Hokuspokus ist!“
„Ma langsam, Jüngelchen, ick war ja noch nich fertig. Der Schloderer lag da also in seiner eijenen Pfütze. Da kam Schildkröte. Der war damals Arzt, im Kriech, verstehste? Den hat nüscht schockieren können. Schildkröte reißt sich also den Ärmel von seim Hemd ab und verbindet den Schloderer fest jenuch, dasser inner Kneipe nich janz ausläuft.“
Ich versuchte das Bild eines Röchelnden in seinem eigenen Blut beiseite zu schieben. „Also hat er überlebt?“
„Wenn man das so nennen möcht’. Janz schnell kam ne Ambulanz und hat ihn mitjenommen. 14 Tache hammse ihn anne Schläuche geklöppelt. Essen, Trinken, Luft, Scheißerei, eben allet. Pünktlich isser abjeritten. Janz dünne war’er, fast schon durchsichtig. Ick bin keen Doktor, aber Schildkröte hat erzählt, dass der Schloderer wohl zu wenig Saft im Kopp jehabt hat und da isser wie Jemüse jeworn. Nuja. Da hammse nüscht mehr zu lachen jehabt und mich vom Hof gejacht.“
„Er hätte es schaffen können!“, versuchte ich ihr etwas abzutrotzen.
„Hatter aber nich. Is alles nur schlimmer jemacht worn. Zwee Wochen für nüscht. Soller mal dem Herrgott erzählen, wasser sich dabei jedacht hat, der Schloderer…“
Sie drehte sich kopfschüttelnd weg und murmelte weiter. Der Krankenwagen mit dem Unglücklichen war längst schon verschwunden. Jene, die erlebt hatten, was passiert war, nahmen die Beine in die Hand, um diese spektakuläre Geschichte ihren Kollegen zu erzählen. Leise kroch es aus mir heraus: „Wann?“.
„Was?“
„Wann. Bin ich dran?“
Die Alte holte tief Luft und für die Ewigkeit eines Augenblicks schien sie mir ein Datum nennen zu wollen. Doch sie brach ab und atmete schnaufend aus.
„Nee mein Kleena, lass ma. Es jibt so Leute, da kommt nüscht Jutes rum, wenn die zu viel wissen. Bei so Grüblern wie dir isses besonders schlimm.“
„Nur: Wie soll ich denn jetzt weitermachen? Und warum?“
„So wie vor ‘ner Stunde ooch. Da hasste von nüscht jewusst und warst janz jut beieinander. Un nu? Schiss?“
„Wie soll ich denn da keine Angst haben? Ich werde sterben…“
„Müssen wir alle.“
„…kann aber nichts dagegen tun!“
„Kann keener. Tu doch einfach so, als ob das jeden Moment passiern kann. Wenn dir das zu ville Arbeet is, denkste halt: Wat wäre, wenns morgen soweit is? Noch schnaufste ja kräftig jenuch.“
„Also morgen? Morgen ist es soweit? Da bin ich dran?!“
„Ick hab nix jesacht. Allet in deinem Kopp. Liegt an dir, was du damit machst, Jüngelchen. Wenn ick wüsst, dass ich morgen… Naja, dann würd ich vielleicht irgendwie anners an die Sache rangehn tun. Aber was weeß ick schon, bin nur ne alte Frau…“
Weder weiß ich, wie ich nach Hause gekommen bin, noch, was ich dort gemacht habe. Irgendwann überkam mich der Schlaf. So wie sie mich beim Abschied angesehen hat, war ich mir sicher: Morgen klopft der Sensenmann und will nicht nur Schach spielen. Hab aber Glück gehabt. Schätze ich mal.
Ich rannte in den Park, um ihr voller Stolz von der Lächerlichkeit zu berichten, dass ich gestern eingeschlafen und heute wieder aufgewacht war. Doch auf ihrer Bank saß nur ein alter Mann. Als ich ihn fragte, wo die Alte sei, schaute er mich an und sagte „Flugzeugabsturz“.
Ich fragte nicht, für wen.