Das Telefon. Mein Boss. Wütendes Gebrüll. Wo ich bleibe? Bin krank, kann mich kaum bewegen, es geht wohl was rum, vielleicht ist es morgen besser. Eine Lüge mehr oder weniger, auch egal. Verwässert sich mit den anderen aus 70 Jahren.
Wenn ich nicht bald auftauche, droht er, steckt er sich meinen Lohn für die ganze Woche selbst ein. Wäre nicht das erste Mal. Und wenn ich ihn noch einmal so schlapp anflunkere, sorgt er dafür, dass ich an den Ofen versetzt werde. Ich sage nur jaja und hmm und knalle den Hörer auf. Der springt wieder hoch und baumelt wie ein Gehenkter zwischen den Flaschen neben meiner Matratze.
Agnes wacht vom Klirren auf. Schlohweißes Haar auf ihrem Gesicht, weiter Weg aus dem Traumland. Für ein paar Stunden nicht unglücklich. Wenigstens einer von uns. Meine Pillen sind schon seit ‘ner Woche verbraucht. Nachschub gibt’s erst nächsten Monat. Miese Qualität, gestreckt wie verdünnte Luft. Sie schläft viel, weiß Gott, was sie träumt. Aber sie hält durch. Immer noch.
Sie dreht sich um, zieht die Schublade auf, tastet nach dem kleinen roten Kästchen mit dem goldenen Hirsch drauf und zählt die Milchzähne darin. Alle da. Wie seit sieben Jahren. Ob ich Junior schon gesehen habe, fragt sie. Klar, Darling, gerade eben erst. Hab ihn nochmal ins Bett gebracht. Hat mir noch was vom Kindergarten erzählt. Ist dabei eingeschlummert.
Das zu erzählen, diese Erinnerung am Leben zu halten, sie damit im Leben zu halten, reißt mich in Stücke. Wieder und wieder. Täglich kommt dieser Moment und fetzt ein anderes Stück aus mir heraus. Fühlt sich falsch an. Immer. Aber es scheint zu helfen. Ihr zumindest.
Sorry, war ich zu laut? Dreh dich nochmal um. Ist noch früh. Nein, ich habe frei bekommen. Alles wird gut. Ich lüge. Sie glaubt. Das ist der Deal. Für sie zahle ich jeden Preis.
Mittwoch. Schon wieder. Bin in ein Schwimmbad voller Scheiße gestiegen und halte es für ‘ne Aufgabe. Zeit, duschen zu gehen. Sonst bewerbe ich mich hier noch als Bademeister. Gestank ertragen können, ist das eine. Ihn gut zu finden, Verschwendung.
Ins Büro schleppen? Da lauert doch nur die alte Karbunkel. Haut mir sicher wieder ein Bergfest! um die Ohren. Ich trinke. Bei ihr ist es Lebensfreude aus der Pillendose. Was immer unsere Pferde am Laufen hält. Aber geh mir damit nicht auf den Sack, sonst stopfe ich dich in den Schredder.
Baranowski in der Küche, redet sich ein, dass die Woche fast geschafft ist. Wenn ich weg bin, kippt er 'nen Doppelkorn. Danach Pfefferminz. Denkt, dass niemand etwas merkt. Trottel. Fällt eines Tages hier um. Bestimmt, wenn ich im Dienst bin. Liegt dann in einem Haufen weißer Drops. Daran wird man sich erinnern. Du hast es geschafft, Mann.
Die Praktikantin – Claudia? Corinna? Wie hieß die nochmal? – hat heute Zumba. Muss deshalb wieder eher los. Säuselt mich mit ihrer Kleine-Mädchen-Stimme an, ob das so okeeeh geht. Klappt wahrscheinlich bei ihrem Alten. Oder den Knackern, die sie hier immer im Sportwagen abholen. Mir egal. Ich trag dir deinen Arsch nicht hinterher.
Krankfeiern? Lächerlich. Reicht nicht mehr. Ich bin raus. Lass alles liegen. Morgen sind die Abrechnungen fällig, Freitag ist Versand. Einschlag in den Briefkästen der Leute am Samstag. Wird sich die Hälfte wieder schön einscheißen. Ein ganzes Wochenende mit meinem Brief im Kopf. Wenigstens ein paar, die an mich denken. Stolz klingt anders, ich weiß. Drauf gepfiffen.
Sonne. Hatte fast schon vergessen, wie sich das um diese Uhrzeit anfühlt. Mein Zimmer. Die Schreibmaschine. Das rote Radio kämpft mit großer Klassik. Seine Transistoren mit ihrem Stimmbruch. Aber ich mag den kleinen Kämpfer, er haut sich wenigstens noch rein. Graupner würde bei dem Klang davonlaufen. Ist aber auch ein Idiot. Muss er auch sein, wenn er freiwillig den Boss in so einer Bude spielen will. Außerdem Audio-Fetischist ohne Ahnung von Musik? Eigentlich ein Jammer. Aber nicht meiner.
Mitte der Woche und noch jede Menge Scheiß zu erledigen. Hm. Wo ist das Papier? Farbband – frisch genug. Radio: Mahler. Volltreffer. Kaffeemaschine: schwarz, ohne Zucker. Bitter muss man mögen. Lass uns fliegen.
– Einsachtundachtzig. Zweihundertzehn Pfund.
– Das ist viel für eine Frau.
– Mutter war Sportlerin, Kugelstoßen. Aber das steht sicherlich auch in der Akte.
– Nein. Aber ich lasse es eintragen. Haben sie auch Sport getrieben?
– Nicht richtig. Nur ein bisschen, in der Freizeit, nebenher.
– Was haben sie gemacht? Sind sie gelaufen?
– Fußball, Basketball, all so was. Eigentlich sollte ich Schwimmer werden, wegen der Größe.
– Der Größe?
– Die sind damals durch alle Schulen gegangen, auf der Suche nach groß gewachsenen Kindern. Nachwuchsbeschaffung für Leistungszentren.
– Weshalb gerade große Kinder? Sind kleinere nicht leichter, wendiger?
– Hat wohl was mit der Hebelwirkung im Wasser zu tun. Dabei konnte ich noch nicht einmal schwimmen!
– Wie groß sind sie jetzt? Einsfünfundneunzig? Die müssen sich ja phänomenale Zeiten von ihnen erhofft haben.
– Heute Einsneunzig, damals knapp Einsvierzig. Mit sechs Jahren! Hab's aber nicht lang durchgehalten und irgendwann das Training geschwänzt.
– Sonst noch etwas?
– Schach. Und Schießen. Pistole. In der Schulturnhalle. Diese kleinen Diabolos, ohne Pulver. Die haben nur gepufft, aber nicht geknallt.
– Wie auf dem Rummelplatz?
– Ja, so ungefähr.
– Haben sie auch an Wettkämpfen teilgenommen?
– Einmal, ja. Schwimmen.
– Und wie ist es ausgegangen?
– Stadtmeisterschaften, Vorausscheid. War ein Reinfall.
– Sind sie Letzter geworden?
– Nicht offiziell. Der Junge auf der Bahn neben mir hat einen Krampf bekommen. Ist fast ertrunken.
– Also Vorletzter, offiziell.
– Es war eine Fünfziger-Bahn. Wir haben in unserer Schwimmhalle aber nur eine 25 Meter lange Strecke gehabt. Schätze, ich war wohl etwas überfordert.
– Und ihre Eltern?
– Mein Vater und meine Großmutter waren da. Saßen beide ganz hinten in der Ecke. Konnte sie kaum sehen. Mutter hatte an dem Tag auch einen Wettkampf.
– Wissen sie noch, wie ihre Mutter auf ihr Ergebnis reagiert hat?
– Nein. Zu lange her. Es sei denn, sie wollen von mir hören, dass sie mich verachtet hat, weil ich ihren Anforderungen nicht genügte. Aber das wäre nur gelogener Psycho-Quatsch von wegen Schreckliche Kindheit und so weiter.
– Und das wollen wir ja nicht…
– Genau. Oder war das eine Frage?
– Wie klang es denn für sie?
– Sie stellen hier doch die Fragen, oder?
– Dafür bin ich da, ja.
– Also?
– Also was?
– War es eine Frage?
– Nein.
– Klang aber beinahe so.
– Wenn ihre Mutter sie geschlagen hat…
– Moment, wie kommen sie darauf, dass meine Mutter mich geschlagen hätte? Steht das dort irgendwo?
– Hat sie das nicht?
– Steht das dort? Nein, hat sie nicht! Ich… nein, wie kommen sie darauf?
– Hier steht: „Mutter: Wahrscheinlich bipolare Störung, neigt zu innerfamiliärer Gewalt…“
– Ach das.
– „…gegenüber Ehemann…“
– Ja. Aber…
– „…und…“
– Nein, so war das nicht, also nicht immer…
– Nicht immer?
– Mich hat sie nie geschlagen. Und mein Vater hat getrunken, oft und viel. Der hat selber gerne ausgeteilt.
– Also reden wir hier von Notwehr?
– So kann man es sehen, ja.
– Notwehr einer riesigen Frau gegenüber Erwachsenen und Kindern.
– Mich hat sie nie geschlagen. Meine Schwester, ja, aber mich? Nein.
– Was hat denn ihre Schwester verbrochen, dass sie solch eine Reaktion erdulden musste?
– Weiß nicht.
– Haben sie sich nie mit ihr darüber unterhalten?
– Doch.
– Aber?
– Wenn ich ehrlich bin, habe ich nie verstanden, wo eigentlich das Problem lag.
– Haben sie mit ansehen müssen, wenn ihre Schwester geschlagen wurde?
– Nein. Ich war da nie mit dabei nicht.
– Wo waren sie?
– Nicht da nie. Meistens in der Akademie.
– Akademie… Hier steht, dass sie Busfahrer sind. Sie haben studiert?
– Nein, Polizeiakademie. Ich habe damals in den Vorkursen mitgemacht. War eine schöne Zeit.
– Vorkurse?
– So eine Art Jugendgruppe. Wie beim Nachwuchs der Feuerwehr. Oder den Rettungshelfern.
– Und immer war alles bereits vorbei, als sie heim kamen?
– …
– Herr K.?
– Ehrlich, ich habe niemals mitbekommen, wenn meine Schwester verprügelt wurde.
– Wissen sie, was mich bei der ganzen Angelegenheit stutzig werden lässt?
– Nein, woher denn auch? Ich kann doch nicht in ihren Kopf sehen! Aber wissen sie, was mich fertig macht?
– Beruhigen sie sich. Bitte.
– Dass sie hier zum dritten Mal auftauchen, und mir zum dritten Mal Scheißfragen zu meiner Scheißfamilie stellen…
– Setzen sie sich doch bitte wieder hin.
– …und mich dann hier sitzen lassen wie Heinz Doof, und noch nicht ein einziges Wort darüber haben fallen lassen, was ich eigentlich hier mache!
– Ihre Mutter ist tot.
– Das weiß ich!
– Ebenso ihr Vater.
– Ja, seit acht Jahren. Und?
– Sie wurden halbnackt vor einem Stadion gefunden, bewusstlos.
– Ich war schwimmen!
– Allein?
– Mit meiner Schwester. Fragen sie doch bei ihr nach!
– Bevor oder nachdem ihre Mutter erschossen wurde?
– Zum dritten Mal: Ich weiß es nicht!
– Herr K.?
– Ja?
– Sie sind ein Einzelkind.