Katzentisch
Bis zum Arsch des Arsch der Welt sind es 20 Kilometer. Jedes Jahr kurble ich durch endlose Felder, holprige Landstraßen und gegen den Wind ins Gasthaus „Zum Malz“ am Rande der Welt. Ein magischer Ort, nicht nur weil es immer bergauf geht, ganz gleich, ob ich herkomme oder heimfahre. Alles hier ist gleichzeitig gestern und übermorgen. Windräder quirlen Luft zu Strom, während die Bauern den alten Zeiten nachweinen, die naturgemäß immer die guten, wenn nicht sogar die besten waren. Dann steigen sie in ihre Teslas und fahren in den Dorfkonsum zwei Ortschaften weiter. Nur der Gestank, der war schon immer so.
Das „Malz“ ist ein altes Bauernhaus an der Durchgangsstraße zwischen Stadt und Welt. Küche gutbürgerlich, Stimmung urig, Kartenzahlung nicht möglich und der Ort, an dem Großmutter Otremba immer ihren Geburtstag feiert. Tradition ist Tradition. Mein Fahrrad verrät allen, dass ich nicht aus der Gegend komme. Klauen würde es mir hier niemand, das wäre unter jedermanns Würde, daher stelle ich es einfach hinterm Haus ab, wo ich über Cousine Lola stolpere.
„Und das ist K., mein Kussenk, sag ma' hallo!“, tönt es hinter einem Smartphone hervor. Ich sehe sie nicht, aber sie sehen alle via Livestream. Ich grüße brav, sie kichert und gibt mir unverständliche Handzeichen. Soll ich nochmal grüßen? Einen Handstand machen? Mit Kettensägen jonglieren? Habe auf nichts davon Lust und lasse sie stehen. Sie hat mich ohnehin vergessen, die alten Hofgeräte sind jetzt viel interessanter als ich. „OMG! Voll Vintage!“
Der Gastsaal ist rammvoll. Als ich beginne, die Mitglieder der Familie zu begrüßen, spielt der Alleinunterhalter noch „Looking for Freedom“. Endlich beim letzten angekommen, beendet er „Atemlos durch die Nacht“. Alte und neue Gesichter. Gescheiterte Einzelgänger und hoffnungsvolle Neuanfänge. Geiles Starren trifft auf misstrauisches Lauern. Eine ganz normale Feier also.
Als Kind dachte ich, dass ich auch irgendwann einmal bei den Großen sitzen darf, wenn ich alt genug bin, mich zu rasieren. Fehlanzeige. Sehe meinen Platz. Wieder einmal Katzentisch. Da kann sterben wer will, die Reihen bleiben geschlossen und ich außen vor. Will ohnehin nicht lange bleiben. Merkwürdig ist es aber schon, denn neben Großmutter wäre noch ein Platz frei. Ich setze mich und schaue zu ihr. Sie hebt entschuldigend die Schultern. Früher bekam ich später noch ein Bonbon zugesteckt. Das war unser Geheimzeichen. Jeder meiner Brüder und Cousins hatte eins, aber meins war besonders. Dachten die anderen wahrscheinlich auch. Falls sie sich noch daran erinnern wollten.
Mit mir sitzen fünf andere Personen am anderen Ende der Tafel: Onkel Reini, der es früher, zu DDR-Zeiten, beinahe in die zweite Mannschaft von Chemie Leipzig geschafft hätte – wäre ihm nicht dieser „blöde Unfall“ dazwischen gekommen. Traudl, seine Frau, die mehr schwitzt als redet. Ein verrücktes Pärchen, das Oma im Urlaub kennengelernt hat und dessen Name niemand kennt, das aber nackte Hunde züchtet. Und Lola, deren Platz leer bleibt, weil Reini sogar Leute ihres Schlages mit Geschichten von Früher nervt. Sie stromert durch das Gasthaus auf der Suche nach „awesome Stuff“.
Fotos der Hunde werden herumgereicht. Die Tiere sehen aus wie fettige Bratwürste, die jemand in eine Hundeform gepresst hat. „Scholoitz-kuint-li heißen die. Das ist der Fred. Und das die Maggie. Guck mal, wie die Maggie Schnute macht!“ Wir gucken, wie Maggie Schnute macht. „Kommen eigentlich aus Mexiko. Sind sehr empfindlich bei Sonne.“
„Wie diese Nacktkatzen, stimmts?“, will Reini den Tisch übernehmen.
„Bleib uns mit denen vom Leibe! Das ist doch eine Qual, die armen Viecher! Und ästhetisch sind die auch nicht. Die sehen ja alle aus wie überfahrene Handtaschen. Nein, sowas kommt uns nicht ins Haus, nicht wahr Schatz?“
Schatz nickt und zeigt uns „den Fred“, wie er ebenfalls beim Schnute machen ganz vorne mit dabei ist.
Reini verleiert die Augen. Traudel schwitzt. „War knapp, letzte Saison, oder?“
Die Bilder der Hunde sind wie Autounfälle und es kostet einige Kraft, mich von ihrem Anblick loszureißen, um Reini zu antworten: „Hm?“
„Naja: Chemie. Sind ja fast abgestiegen. Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben. Das waren noch echte Kerle. Aber guck dir mal die Jüngelchen von heute an. Das ist doch alles nur noch Tattoo und Aua-Aua. Habe ich dir eigentlich schonmal erzählt, wie ich damals beinahe bei Chemie in die Mannschaft gekommen bin? Also, das war so…“
Wenn die Not am größten, ist ein guter Kellner am nächsten. Der stille Patron wuchs plötzlich neben mir aus dem Boden und fragte, was ich zu trinken wolle. Sein Gesicht strahlte wie von einem Leuchtturm herab. Er hatte alles schon gesehen, wahrscheinlich mehrfach, und wusste, dass Unsichtbarkeit ein Segen sein kann. Reini erzählte seine Geschichte nun der Hüfte des Kellners, den ich am liebsten um ein Bierglas voller Whisky gebeten hätte. Lieber gleich sterben, als noch einmal die Geschichte über den Lada hören müssen, der Reinis Karriere zerstört hat, damals, anno Pfefferkuchen, als die Welt noch komplett schwarz-weiß war.
Flüchten kann ich nur nüchtern. Bestelle Ginger Ale. Reini fragt mich grinsend, wie das denn sei, so als einziger Schwuler der Familie. Frage ihn, wie es so sei, als einziger Sportinvalide der Familie. Das Grinsen verdampft.
„Kann ich doch nichts dafür!“ – „Komisch, wollte ich auch gerade sagen!“
Traudl zupft ihren Mann am Ärmel. Die Musik und Reini geben Ruhe. Könnte man sich dran gewöhnen. Der Alleinunterhalter überreicht Oma das Mikrofon.
„Schön, dass wir uns in diesem Jahr wiedersehen und ihr es wieder alle geschafft habt. Danke für die lieben Geschenke und Karten. Hat mich wirklich gefreut! Auch freuen mich die vielen bekannten und die vielen neuen Gesichter. Familie. Ist ein anderes Wort für sicherer Hafen. Und davon kann es gar nicht genug geben.“
Die Familie schaut sich anerkennend an. Haben sie toll gemacht. Einmal im Jahr an den Arsch der Heide zu fahren, um nicht aus dem Erbe zu fallen. Großartige Leistung. Den Älteren steht der gierige Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben, Großmutter unbedingt zu überleben. Den Jüngeren ist das egal. Sie stehen nicht nur unendlich weit hinten in der Liste der Gewinner, sondern haben auch noch echte Erinnerungen an Zuckerbrot, Mensch ärgere Dich nicht und endlose Uno-Runden im Herzen.
„Leider scheint sich Olúwaseun zu verspäten, aber das macht nichts. Der kommt bestimmt gleich. Fangt also ruhig schon einmal an. Guten Appetit und nochmal: Danke fürs Kommen!“
Das war neu und niemand im Raum kann etwas damit anfangen. Da hocken fünf Dutzend Verwandte, von denen jeder wusste, was der andere verdient, auf dem Kerbholz hat, was sie letzten Sommer getan hatten und vor allem: wie sie hießen. Wären Außerirdische neben dem Buffet gelandet, hätte das nicht weniger Verwirrung zur Folge gehabt. Die Hundefrau findet in die Stille hinein ein weiteres Bild von Fred und Maggie, wie sie beide Schnute machen („Gleichzeitig!“) und zeigt es sehr stolz in sehr viele sehr verdaddelte Gesichter.
Reini fängt sich als Erster. „Olúwaseun? Was ist das?“
„Wer, Reini. Wer ist das. Er kommt aus Nigeria.“
„Nigeria? Nigeria wie Afrika?“
„Nein, ich meine das Nigeria bei Magdeburg! Mein lieber Reini, natürlich Afrika. Oder kennst du noch eins?“
In Reini poltern alle Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, sein offener Mund verrät es und man kann es fast klappern hören. Traudl stupst ihn an, damit er nicht allzu dämlich aussieht. 60 Jahre zu spät. Der Rest der Gesellschaft beginnt zu tuscheln. Das Summen steigt zu einem Rauschen an. Ein Besteck scheppert laut auf den Boden. Doch das ist noch nicht der Startschuss.
„Ihr könnt ihn Oli nennen. Es sei denn, einer von euch spricht Yoruba.“
Nun bricht es aus allen gleichzeitig heraus. Großneffe Schlümisch schreit atemlos „Prinz. Scam. Internet!“. Seine Frau fällt direkt in Ohnmacht. Das verstehen nun auch die anderen. Es ist eindeutig das Ende der Welt wie wir sie kennen: Oma wurde abgezockt. Rente weg, das Erbe womöglich auch. Alle bringen ihre Geschütze in Stellung und schießen ihre Vorwürfe auf Großmutter ab. Reini hatte geplant, groß in Sportwetten einsteigen; er hatte da einen Typen mit todsicherem System an der Hand. Die Hundezüchter dachten daran, ihren Zwinger zu vergrößern und ihre Bratwurst-Hunde nach Polen exportieren. Lola bekommt sich fast nicht mehr ein und streamt das ganze Theater ungebrochen ins Netz.
Bernd, Omas anderer Sohn und Reinis Bruder, versucht die Stimmung zu beruhigen. Reini fällt ihm ins Wort. „Spiel dich hier nicht so auf! Es ist auch dein Erbe, das hier den Bach runter geht! Oder hat der feine Herr schon was zur Seite gebracht?“.
Bernd ignoriert ihn und dreht sich von ihm weg. Blöder Fehler. Reini wirft einen abgenagten Eisbeinknochen an den Hinterkopf. Die Entgeisterung kippt spontan in ein solides Handgemenge. Die Spiele sind eröffnet. Frauen kreischen und feuern an. Männer feuern an und kreischen. Lola ruft die ganze Zeit „OMG! OMG!“ und streamt fleißig weiter. Nur Ines, Steffi, Manuela und Katrin lassen sich nicht anstecken und bilden einen Kordon um Großmutter. Sie sind die unbesigbaren „Vier Engel für Oma“ und teilen kräftiger als alle anderen aus. Jeder, der ihnen zu nahe kommt, fängt sich eine. Am heftigsten erwischt es Günther, den alten geilen Bock, der allen immer nur auf den Hintern schaut und killekille spielen will. Er landet mit dem Gesicht in der heißen Kartoffelsuppe. Niemanden kümmert’s.
Ich habe mich hinter dem Tresen versteckt. Bester Platz. Hier hat man mit dem Wirt immer einen Waffenbruder an der Seite. Ich nahm an, dass Hunde ohne Haare heute den Höhepunkt bilden würden. Aber das hier war biblisch. Anfangs versuchte Oma noch, sich zu erklären. Aber Erklärungen waren das letzte, was dieser Mob wollte. Das Zauberwort für den dritten Weltkrieg war ein harmloser Vorname und hier waren alle zum Endsieg entschlossen. Oder fast alle. Nach und nach krochen Leute vom Parkett und flüchteten kopfschüttelnd zum Parkplatz. Sogar Reini und Bernd ließen irgendwann voneinander ab, als Traudl mit einem verzweifelten „Och Mönsch“ alle überraschte.
Als sich der Staub legt, bin ich der Letzte im Saal und gehe zurück an den Katzentisch. Was die Tischdecken nicht aufzusaugen vermochten, tropfte auf den Boden. Stühle lagen kreuz und quer im Raum. An der Lampe hing ein vergessener Hut. Tante Ritas Perlenkette hatte sich auf dem Boden verteilt und die kleinen weißen Kugeln warteten nun auf einen Unglücklichen und sein labiles Becken. Es roch nach Bier und Zorn. Der Alleinunterhalter orgelt sich pflichtbewusst noch immer einen ab. Der Kellner bringt ungefragt zwei Drinks. Wünsche Oma Alles Gute und erhebe mein Glas. Sie zuckt wieder mit den Schultern und beginnt plötzlich zu strahlen.
In der Tür steht ein riesiger Blumenstrauß auf zwei Beinen. Für einen Moment sind siebzig ihrer fünfundachtzig Jahre vergessen und sie stürzt auf ihn zu. Olúwaseun hat es also doch noch geschafft. Formvollendet in einem kobaltblauen Zweiteiler, wie ein Privatdetektiv aus den Vierzigern. Nicht schlecht. Hätte sowieso nicht in die Polyester- und Jeanshosen-Veranstaltung gepasst, die unser Klan für angemessene Kleidung hält. Selbstverständlich jedoch für einen, der so alt wie Oma ist. „Alles Gute, mein Herz.“ Nigerianisch-deutscher Singsang, unvergleichlich, hundert Prozent Seele. Der Kellner bringt auch einen Drink für ihn. Er lehnt ab. „Muss noch fahren, mein Freund.“ Oma stellt mich ihm vor. Er lädt mich in sein Restaurant ein. „Aber nur, wenn du allein kommst“, zwinkert er mir zu. Ich zwinkere zurück. Guter Mann.
Als ich gehen will, höre ich ein Klatschen und Stöhnen aus der Abstellkammer. Vorsichtig öffne ich die Tür, denn auf Familienfeiern, lässt es so mancher etwas loser angehen. Doch statt ineinander verkeilte Verwandte am Rande der Legalität sehe ich die vier Schwestern. Sie haben Günther noch immer in der Mangel. Er sieht aus wie das Frikassee, mit dem sie ihn offenbar übergossen oder zwangsgefüttert haben. Ines schaut mich mit einem Blick an, der mich vor die Entscheidung stellt, der Welt einen Gefallen zu tun oder dumme Fragen zu stellen. Ich schaue die Schwestern an. Günther uns alle, flehend, mit Suppe im Haar. Wir verstehen uns. Ich schließe die Tür. Was ich nicht gesehen habe, muss ich auch nicht vergessen. So bleibt's in der Familie. Tradition ist Tradition.