Lieber Michel
Alles Gute zum Geburtstag. Meine Herren: Schon wieder ist ein Jahr rum. 35 wirste. Ich kann mich noch erinnern, als ich Deinen Geburtstermin erfuhr.
Wir waren mit der Familie auf dem betriebseigenen Zeltplatz an der Ostsee. Alle hatten sich fleißig mit Westzeug eingedeckt, als würde es morgen schon wieder verboten werden: Klamotten, Fressen, Schnaps und Kippen. Ein Jahrhundert-Heuschnupfen ließ mir den Rotz aus allen Öffnungen laufen lies. Rainer, den wir den Kleinen Rainer nannten, weil er größer war als der Dicke Rainer, machte mir ein Glas Peperoni auf.
„Ist gut gegen die verstopfte Nase!“, meinte er.
Ich glaubte ihm wie ein Lepröser dem Wunderheiler. Diese grünen, schrumpligen Pimmel waren meine Alchimistenmedizin. Also steckte ich mir zwei von den Dingern in den Mund.
Was folgte war ein biblischer Waldbrand. Meine Zunge schwoll gleichzeitig an- und ab. Ich sprang auf, jaulte wie ein Hund, wälzte mich tränenblind auf dem Boden. Die verstopfte Nase war nun mein kleinstes Problem. Auf der Suche nach Linderung stolperte ich ins nächstbeste Vorzelt. Irgendwo musste hier doch was zu trinken stehen! Gegen die Rufe der lachenden Zuschauer Nüscht trinken, sonst wirds noch schlimmer! – Pah! Wer wollte denen jetzt noch glauben! – stürzte ich mir literweise Mineralwasser in den Hals.
Erschöpft kam ich auf die Schwelle unseres Wohnwagens wieder zur Ruhe. Aus dem Radio tönte die Stimme eines Nachrichtensprechers. Neuigkeiten aus Bonn waren damals ein wertvolles Ding, änderten sie sich doch stündlich: Wiedervereinigung jetzt! Wiedervereinigung – Ja aber.... Wiedervereinigung – Bloß wann? Es wurde nie langweilig. Doch heute alles anders.
Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut. Nur daran, dass endlich eine Einigung gefunden wurde: Der 3.Oktober 1990 wird der Tag sein, auf den alle Leute sich vorzubereiten nicht in der Lage sein sollten. Das Brennen war schlagartig weg.
Ich ging hinaus und verkündete, was ich soeben gehört hatte. Es war nicht totenstill. Es brach aber auch keine ekstatische Freude aus. Sie taten: Nichts.
Es war, als hätte ich ihnen gesagt, dass der Urlaub in ein paar Tagen vorbei sein würde. Oder am 24. Dezember der Weihnachtsmann kommt.
Es war, wie es war.
Punkt.
Der Feiertag rückt vom siebten auf den dritten Oktober. Alles klar. Notiert und abgehakt, Wer will noch ein Bier?
Heute muss ich mich anstrengen. Warum stand niemand jubelnd auf oder sagte wenigstens irgendwas Patriotisches? Sonst kam das bei deutlich billigeren Anlässen wie auf Knopfdruck. Wussten sie, was passieren würde? Dass die angenehme Zeit vorbei sein würde? Der beschützende Trott des alten, für die Westdeutschen kaum deutbaren Systems und der Luxus des neuen, komfortableren Lebens?
Der Ossi, bis dahin wie ein neu entdecktes, lange vermisstes Glied der Evolution behandelt, würde seinen Status als verschroben-liebenswerter Kauz verlieren. Bald würde er nur noch zu denen gehören, der anderen auf der Tasche liegt. All das wussten sie. Aber sie machten weiter, als sei nichts geschehen. Als würde nichts geschehen. Dummheit? Oder einfach nur Fügung in das Unvermeidliche. Gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben, dass ihre Art zu leben objektiv so gut ist, dass der Kapitalismus sie niemals ersäufen kann.
Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht, wie ich mich verhalten hätte. Damals, als Fünfzehnjähriger, war der Westen und seine Möglichkeiten wie eine Lawine über mich hereingebrochen. Da nun alles möglich sein würde, war nichts mehr schaffbar. Siegen oder Untergehen. Wäre mir damals klar gewesen, dass das viel zu eng sitzende, dafür aber scheinbar ungleich funktionalere Korsett geöffnet wurde? Ich muss mich anstrengen...
Bis heute habe ich viele Geschichten von vielen Leuten gehört. Die Verlierer bedauert. Ihnen ihren verdienten Reinfall gegönnt. Mich mit den Gewinnern gefreut. Sie um all das beneidet, was ich nicht haben konnte. Und ich habe eines gelernt: Siegen oder Verlieren sind keine Zustände sondern sich stetig abwechselnde Prozesse. Wichtig ist der Verbleib im Spiel. Wer ausgewechselt wird, muss so schnell wie möglich wieder rauf aufs Feld oder sich notfalls einen neuen Club suchen. Verschnaufen – ok. Doch draußen bleiben und rumheulen? Ist nicht. Und auf den Trainer meckern ebenso.
Mein lieber deutscher Michel, ich hoffe, Du bist nach dieser rührseligen Anekdote noch wach. Vielleicht hast Du ja auch den Mittelteil übersprungen. Wäre auch nicht schlimm. Wichtig ist, dass Du Dich weiterentwickelst. Lass Dir nicht alles von Deinen Eltern aufs Auge drücken. Hör nicht auf das Gefasel des dementen Großvaters. Der hat es ja auch nur ein paar Jahre lang gemacht und es sich dabei mit der kompletten Nachbarschaft verschissen. Sei Dir bewusst, dass es sie gibt - Und geh dann Deinen eigenen Weg. Bis zum nächsten Jahr.