Lærdal (Norwegen), 20:49 Uhr
Aus einer Flaschenpost:
Lieber Finder, jetzt weißt Du, dass ich existiere. Selbst spüre ich mich schon längst nicht mehr. So gibt es nun wenigstens einen Menschen auf der Welt, dem ich keine Lüge bin.
–K.
Klagefall & Texas-Jim & Hulot
Willkommen bei der Serie "Nur ein einziger Tag" – hier beginnt die Reise!
31 Minuten sind bereits vergangen. 1409 haben wir noch vor uns.
Aus einer Flaschenpost:
Lieber Finder, jetzt weißt Du, dass ich existiere. Selbst spüre ich mich schon längst nicht mehr. So gibt es nun wenigstens einen Menschen auf der Welt, dem ich keine Lüge bin.
–K.
50 Jahre. So lange hatte Bob in die Läufe der Sprache gesehen. Rostige. Blank polierte. Manche qualmend, andere niemals abgefeuert. Zu oft in seiner eigenen Hand und gegen sich selbst gerichtet. Schluss damit. Alle seine Worte sollten ab jetzt heilen und helfen. Die Welt sollte ab jetzt ein besserer Ort sein. Das Ende des ewigen Krieges. All das. Jetzt.
Doch als er es aufschrieb, musste er lachen. Er wusste nicht, weshalb. Da kam der Wirt des „Shenaningans“ raus und vertrieb ihn von dem kleinen Gartentisch, der angeberisch als Freisitz auf dem Fußweg posieren musste. Er hielt Bob für einen dieser WLAN-Schnorrer, die nichts tranken und seine zahlenden Gäste abschreckten.
Bob stand auf, schoss auf den Wirt. Der feuerte zurück. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Bis beide verstummten.
– Sie hatten angerufen?
– Ja, danke für den Rückruf. Folgendes: Der Mann, der jeden Tag zu mir in den Kiosk kommt, um sich die Zeitung von Vorgestern zu kaufen, die ich ihm stets zurückgelegt hatte, kam heute nicht.
– Warum?
– Auf diese Weise wollte er prüfen, an was er sich noch erinnern konnte.
– Nein, ich meinte: Weshalb ist er heute nicht gekommen?
– Deshalb habe ich angerufen.
– Vielleicht hat er es einfach nur vergessen?
– Wer?
– Ihr Kunde.
– (von hinten) João! Schnell! Das musst Du sehen!
+++ Aus dem Protokoll der Zeugenvernehmung: »Einweisung. Fleischerei vorübergehend geschlossen.« +++
Die Zeit des Drachen
Donnerschläge im Dunkeln
Städte steigen auf als Funken
Kleinste Teile
Größter Stille.
Die Verträge laufen ab
Wir hatten unsere Zeit
Städte fallen herab als Schnee
Und wir
Keiner hört nichts.
Da kann Raum sein
Da soll Licht sein
Da darf Zeit sein
Da muss alles werden
Wieder aus nichts?
Nein.
…wie heute örtliche Behörden vermeldeten. Es handelt sich dabei um den seit einiger Zeit vermissten Laurent Beaugaud, lokaler Schriftsteller von Kochbüchern. Beaugaud, der das letzte Mal im Spätsommer des Vorjahres von seiner Frau gesehen wurde, erklärte sein langes Fortbleiben mit einem Gedanken, der ihn beim Wandern packte und Zitat: „…dessen Geschmack ich zu verlieren fürchtete, ginge ich noch einen Schritt weiter“. Auf die Frage, welcher das gewesen sei, antwortete er unserem Reporter: „Auch im Krieg wird geboren“. Und nun zum Sport…
Wenn es an den Hängen des Berges dämmert, schleicht sich ein Affe zu den westlichen Vorsprüngen. Von dort aus beobachtet er für den Rest der Nacht die Plejaden. Sobald deren letzter Stern unter dem Horizont verschwindet, wendet er sich ab und kehrt zu seiner Horde zurück. Mönche wollen beobachtet haben, wie er sich dabei Tränen aus dem Auge gewischt hat.
Wie jeden Abend trafen sich Katze, Krähe und Küchenschabe im alten Sägewerk. Der knorrige Pförtner spuckte schiefe Volkslieder in seine rostige Mundharmonika. Ein Windrad klapperte in der Dämmerung.
„Ihresgleichen überlebt einen Atomschlag, heißt es“, eröffnete die Katze das Gespräch.
Die Schabe wusste sofort, dass sie gemeint war: „Legende. Vielleicht früher. Die neuen Raketen sind gründlicher. Keine Sorge. Der Ofen ist dann aus. Für alle.“
„Betrüblich, mein Bester. Aber eine Sache treibt mich dennoch um“, sprach die Krähe. Sie wandte ihren Blick von Osten ab. „Stellen Sie sich vor, die Welt ginge unter. Noch in dieser Nacht. Und alles, was bliebe, wäre ein Bee-Gees-Video im Äther.“
Die drei schauten sich erschrocken an und waren sich einig, dass das nicht der schlechteste Grund für das Streben nach Weltfrieden war. Die Front verlief schon an der Grenze, war aber noch 250 Kilometer entfernt.
Das Büro war eigentlich seit zweieinhalb Stunden geschlossen, erzählte uns Dave, aber Faran habe wie immer noch eine Extrarunde drangehängt. Als Prokurist habe er den anderen im Großraumbüro immer mit gutem Beispiel vorangehen wollen. Dachten wir alle.
Gestern ist er aber vom Oberprokuristen Rao erwischt worden, wie er zwei Baby-Drachen durch die langen Gänge der Schreibabteilung hat fliegen lassen. Dabei sei Lampenschirmstaub in die empfindlichen Mechaniken der Schriftmaschinen gerieselt. Außerdem fiel ein Bleistift herunter. Kratchovil, Raos Austausch-Gehilfe, hatte sofort Farans Kündigung anzufertigen: Verstoß gegen die Hygienevorschriften. Daraufhin bestieg Faran einen der Drachen und flog kichernd auf ihm davon. Einfach so, durchs offene Fenster und über den Platz der tausend Elefanten.
Da er jedoch seinen Schreibtisch unabgeschlossen zurückließ, kann die Versicherung nicht für die Vollständigkeit der persönlichen Sachen des Faran K. garantieren. Etwaige Regressansprüche sind schriftlich mittels Formular 23-XI bei Abteilung…
…dann zeigt uns Jorge die Grabstellen: Für Familien, versehen mit Vitrinen, denen die Zeit alle Scheiben ausgeschlagen hat. Modrige Reste alter Zeitungen verkeilen die Bilderrahmen in den schimmligen Nischen. Gruften für Schnappschüsse, Plastik, brüchig, billig. Ein älterer Herr schaut uns von den letzten überlebenden Fotos an. Weißer Hut, Zigarre, kein Lächeln. Daneben zwei Frauen, deutlich jünger als er. Hoffnungslos überkontrastierte Bilder, ungelenk ausgeschnitten, verknittert neben den Großvater geklebt.
Im anderen Rahmen: anscheinend Großmutter und Tochter. Der Fotograf drapierte beide vor einer Wand aus gerafftem Stoff. Zu nah. Es sah aus, als liegen sie schon jetzt in ihrem purpur ausgeschlagenen Sarg. Vor jeder der Erinnerungen steht ein kleines Schälchen, gerade groß genug für drei Rosenblüten. Zu brackigem Wasser gestorbener Regen schillert im Mondlicht.
Als wir heimkehren, rennen zwei Hunde über die Straße. Einer bellt. Der riesige LKW verpasst beide nur knapp.
Kenny entdeckte sie am Tresen. Keine Begleitung, kein Name, keine Komplikationen. Volltreffer. Zwei Bourbonflaschen. Ab ins Hotel. Zimmer, stundenweise, schweigsam. Gestank von kalten Kippen und Einbahnstraßen. 50 Dollar inklusive sie. Bestes Investment.
Auf der Matratze kam er ziemlich ins Schwitzen. Kurz vorm Finale drehte sie sich um. Kenny jubelte, packte ihre Hüften, stieß zu, doch – Lieber Gott! Alle Heiligen! – mit jeder Bewegung weichte der Bourbon sein Endgame auf. Nichts zu retten.
„Fünfzig extra“, sagte sie. „Für die Mühe, Daddy-O. Kein Gefeilsche.“ Er gehorchte. Wortlos.
Während sie sich seine Lächerlichkeit abduschte, fragte er sich, ob er irgendwann auch einmal Glück haben würde. Er war doch kein schlechter Mensch! Nicht so wie die anderen Leute! Und wenn seine Frau nach der Prämie fragen sollte? „Wurde beklaut. Versoffene Großstadtpenner. Es wird alles schlimmer dort.“
Mehr Wahrheit gab es nicht.
Nicht für ‘nen Hunderter.