Von der Menschheit
Waren die Gitter an den Fenstern gegenüber immer schon da? Ulli schaute durch die Scheibe seines Schaufensters den roten und weißen Lichtern hinterher. Kleine Regentropfen liefen um die Wette nach unten. Die Stille wurde nur ab und an durch ein barsches Hupen unterbrochen, wenn wieder jemand an der Ampel eingeschlafen war. Die Welt begab sich in den Feierabend. Aber die Kundschaft blieb daheim.
Kalter Straßenwind holte Ulli aus seinen Gedanken zurück. Ein Mann schleppte sich durch die Tür. Er sah aus wie das, was er im Kühlfach liegen hatte. Ihm folgte das Rauschen des Regens und eine schmutzige Blutspur. Aufgerissene Hände konnten nicht alles aufhalten, was aus der Nase lief. Sein Gesicht sah aus wie „Falsche Antwort“ und war erst auf den dritten Blick als das von Daniel zu erkennen.
– Gute Güte! Was ist denn mit dir passiert?
– Hast du mal ein Taschentuch?
Ulli reichte eine Rolle Kleenex rüber. Mit Blut kannte er sich aus, aber normalerweise fand das auf seiner Seite des Ladens statt. Daniel richtete sich her, stopfte sich zwei Zapfen aus Zellstoff in die Nase und atmete tief durch.
– Überfall. Gleich nebenan in der Gasse, wo eure Mülltonnen stehen.
– Ich war gerade draußen, habe nichts mitbekommen. Muss ja blitzschnell gegangen sein.
– Drei Typen, vier Köpfe größer. Habe wohl auf einen wie mich gewartet. Wenigstens stehe ich noch. Den Bobster haben sie letzte Woche glatt abgestochen, drüben, im WK 7.
– So Tage, nicht wahr? Was haben sie dir abgenommen?
– Alles. Bin nun amtlich pleite. Wird wohl nix mit ‘nem Brathähnchen für ein Opfer von Fenty Freddy heute, oder?
– Erzähl keinen Quatsch.
Ulli wickelte einen Batzen gelbes Fleisch ein und reichte es Daniel. Erst Kühlen. Dann aufs Gesicht legen. Danach für eine Stunde in den Ofen. So hat es Mutter früher gemacht, wenn einer der Stiefväter seinen Rappel bekommen und Lektionen ausgeteilt hatte. Ein hilfloses Lächeln und eine Verabschiedung später war er wieder allein im Laden.
Junkies. Ulli konnte mit all dem Scheiß nichts anfangen. Er war Trinker, grundsolide. Er hatte keine Angst vorm Drall, nur davor, dass er aufhören würde. Seine Fleischerei war vollkommen gefliest, hellblau. Er fand es eine gute Idee, sich dem anzupassen und gönnte sich aus der Flasche hinter der Schneidemaschine einen Grund weiterzumachen.
Als ihm der letzte Rest Scotch in den Magen tröpfelte, sah er in seine Hackfleisch-Schüssel. So wie die Alten früher in den Sternen bestimmte Figuren erkannten, sah er nun klar: Freiheit herrscht nicht. Frieden ist nicht. Nur der Krieg kommt von selbst.
Da öffnete sich die Tür erneut und herein kam ein Licht. Nicht weiß oder rot. Einfach nur die Hitze von Tausend Sonnen. Einer hatte auf seinen Knopf gedrückt. Der andere hatte die Einladung angenommen. Befehle, die nie jemand hören wollte. Lebende Tote führten sie dennoch aus. Hatten es ja geschworen. Es ging um Größeres. Wieder mal.
Von all dem wusste Ulli nichts in dieser letzten Sekunde der Menschheit. „Ungewohnt“, dachte er. Es war Herbst, so kalt und finster, wie lange nicht mehr. Glassplitter flogen in das Gehackte, fraßen sich durch Kittel und Haut, Knorpel und Knochen. Als sie sein Hirn pürierten, glaubte er noch den Geruch von nassem Hund wahrzunehmen. Dann gab sein Körper auf. Er schmolz in eine seiner Auflaufformen hinein. Das Fleisch in ihnen war bereits verdampft und nur noch Asche. Alles glühte. Auch die nutzlosen Gitter auf der anderen Straßenseite.