Mikrobi

Klagefall & Texas-Jim & Hulot

Beitrag vom 1. Juli 2024 – 0:06 Uhr

...und als der Reporter der lokalen Tageszeitung ihm, dem weltweit bekannten Schauspieler, dessen Ruhm sich vor Jahrzehnten schon über Nacht wie eine Lawine durch das Land gewalzt hatte, alle Zweifler unter sich begrub und nichts als Erstaunen bei denen hinterließ, denen Schauspieler nicht bedeuteten, die Frage nach seiner schwersten Rolle stellte, um ihn zugänglicher, menschlicher, naturgemäßer porträtieren zu können, lehnte sich der Schauspieler zurück, blickte versonnen durch der Reporter hindurch, durch die Wände seines Studios, durch die ganze Stadt und die sie einkerkernden Felsen, bis in jene Ferne, an der sich Vergangenheit und Zukunft treffen, um Hoffnungslosigkeit zu werden.

Er dachte an die Zeit, in der er vor zwei Dutzend Menschen in modrigen Kellertheatern sperrige Stücke untergegangener Schreiber aufführte, allein, natürlich, denn jene, die diese Stücke schrieben, waren auch allein, natürlich, und so schrieben sie über das, was sie kannten, und er, der Schauspieler, den damals niemand kannte, spielte sich selbst, also eine Figur, die selbst er nicht kannte. Er sagte ihre Sätze auf, als ihr Werkzeug, als ihre Stimme, als ihr Gerippe, als sprechendes, schwitzendes, blutendes Fleisch, redete er über Einsamkeit und Wahnsinn fremder untergehender Menschen, bis er nicht mehr einsam war vor den zwei Dutzend Zuschauern. Die Schreiber waren anfangs noch im Publikum, leise auf Zuspruch, auf Blicke, auf Wahrnehmung und damit Rettung hoffend, doch ihr Untergang war immer schon beschlossene Sache, wie es das für jeden ist, der seiner Seele Schmerz und Auslauf gestattet, auf das jemand aus der Welt das letzte spinnenfeine Seil greift, um sie ans Ufer zurück zu ziehen.

Bühne frei

Im Moment des Schreibens, das heißt als sie beschlossen, Wort zu werden, haben sie den Kreis der Menschen zugunsten falscher Unsterblichkeit verlassen, wo nur die überleben, denen es gegeben ist, im Luftschwall des Applauses, der eigentlich den Schauspielern zugedacht ist, atmen zu können. Er, der Schauspieler, hat während der Aufführungen immer zu ihnen, den Schreibern, geschaut, die wiederum von seinen, des Schauspielers, Blicken nichts mitbekamen, weil sie, die Schreiber, zu sehr damit beschäftigt waren, ihm, dem Publikum, die erhofften Reaktionen abzuringen, die er, der Schauspieler, ihm, dem Publikum, einzugeben hatte.

Doch weder das Publikum, ganz gleich, wie groß es war, wie spät es war, wie gelangweilt oder unterhalten es war, noch der Schauspieler, ganz gleich wie vital er war, wie textsicher oder künstlerisch ambitioniert er war, erfüllten die Sehnsucht der Schreiber. Im muffigen Dunst jener hoffnungslosen Hinterzimmer, die den modrigen Kellertheatern als Garderobe dienten, standen sich Trost auf der einen und der Wille zum Selbstmord auf der anderen Seite gegenüber. Meist war das, nach der "schonungslosen Ignoranz des Publikums" (der Schreiber), der zweite Moment unverhandelbarer Aufrichtigkeit, den diese Abende herausforderten, ja regelrecht erpressten. Ganz gleich, wie lang ein Abend war, immer forderte er diese Zugabe ein.

Er, der Schauspieler, musste ihnen, den Schreibern, zustimmen: Natürlich habe das Publikum den schlechtesten Geschmack, sonst wäre es auf fremde Stücke nicht angewiesen, sondern würde seine eigenen schreiben, eigenhändig, eigenherzig, bis zum Ende, an der (immer!) die Erkenntnis steht, dass man das Leben vor dem Tod nicht beweisen, nur verschwenden kann. Ohne Zweifel habe er, der Schauspieler, das innere, große, wahrhafte, bis dahin noch nie in der Welt gewesene Streben des Schreibers erkannt, ach was heißt "erkannt" - erfühlt und damit wie dieser auch erlebt und erlitten! Und auch wenn seine Kunst, die des Schauspiels, immer unwahr, immer ein Vor-Spielen, ein Nachstellen, ein Nach-Leben, absolut un-eigen-tIiches, etwas Fremdes, damit also im Grunde nur eine Lüge sei, habe er, der Schauspieler, doch immer auch den inneren Faden hin zu ihm, dem Schreiber, gesponnen und geknüpft, auf das sein Leid ihr gemeinsames Leid werde.

Da ihm, dem Schauspieler, dieser allabendliche Verrat jedoch peinlich war, log er den Reporter an, als er "Hamlet" antwortete, was sich dieser fast schon gedacht hatte, dienstfertig notierte und als Wahrheit in die Leben seiner Leser gebar.