Take me home, country road
Jeder von uns wusste, wie viele Tage wir noch zu buckeln hatten, aber sie wurden weder kürzer noch weniger. Der Grundwehrdienst würde natürlich niemals länger als die gesetzlich vorgeschriebene Zeit dauern, so sehr uns die Ausbilder auch mit einem Durchfallen bei der Rekrutenprüfung drohten und mit ihren schwieligen Pfoten unsere Lebenszeit zerdrückten. Doch wir trauten den Scheißern alles zu. Umso wichtiger war uns, dass wir die Fliege machen konnten, sobald sich die Gelegenheit bot. Egal, in welchem Lokus wir morgens wieder wach würden. Hauptsache weg hier.
Wir: Hegele aus Heilbronn. Badisch, unverständlich, unzerbrechlich. Herwegh, Arme so dick wie Beine, der Rest war Herz. Heiko, die Verzweiflung des Nordens. Wollte die Abbruchfirma seines Alten übernehmen. Kam nie dazu, weil sich seine Karre irgendwann um einen Baum wickeln würde. Und ich, natural born Ossi. Zu vielen Folgen M*A*S*H an der Stelle im Hirn, wo andere ihren Verstand aufbewahrten.
Die Kreiswehrersatzämter hatten uns zur selben Zeit hierher gespuckt. Keiner von uns war clever genug gewesen, dem Zirkus ‘ne Nase zu drehen. Jedem fehlte die Härte, die es brauchte, um etwas wirklich Sinnvolles für eine Gesellschaft zu tun. Eine, die dachte, alles kaufen zu können. Hatten nur unsere Großmäuligkeit anzubieten. Aber dafür wollte niemand was springen lassen. Hielten uns für unsterblich. Wie alle Feiglinge hinterm Baum.
Also versuchten wir das Beste. Hegele machte sein Leben lang schon jeden Mist mit, weil er einer war, der keine Angst vor Stumpfsinn hatte. Herwegh folgte ungerührt jeder Anweisung, solange man ihn nicht anbrüllte. Heiko wollte sich und der Welt beweisen, dass er mehr als nur ein Sohn war. Und mich hatte ein Anfall von geistiger Umnachtung in die Uniform gebracht. Nach zwei Minuten in der Kaserne hatte ich die Schnauze voll – und noch zehn Monate vor mir. Schnell lernten wir, dass wir alle gleich dämlich waren, wenn auch jeder auf seine Art ein Spezialist. Doch zusammen waren wir eine ganz spezielle militärische Einheit. Eine für die es weder Namen noch Verwendung gab. Vielleicht sogar Freunde.
Ich fahre uns alle in meinem Trabant Baujahr „Kalter Krieg“ durch die Gegend. „Hessisches Bergland“ heißt der eingetrocknete Fleck in der Unterhose Gottes, auf dem wir unserer Pflicht nachkamen. Hier herrscht immer die Trägheit eines Mittwochabends, der nie aufhören will. „Tokio Deluxe“ nennt sich die Disco, die wir uns ausgesucht hatten. Viel zu lautes Technowummern, als Musik getarnt, dreht die Luft im Raum auf links. Die Dorfjugend, alle miteinander verwandt und vermögend, zappelt schon vorgeglüht im Strobofeuer. Ganztägig Suff zum halben Preis. Jemand hielt japanisches Interieur und Monoblockstühle für geschmackvoll. Wahrscheinlich derjenige, der hier auch die Musik aussucht. Ermäßigung für Bundeswehrangehörige. Es gibt nichts Erbärmlicheres. Für uns wird es für ein paar Stunden zur Rettungsinsel.
Hegele reibt sich seine gestempelten Hände und schwärmt davon, hier mal so richtig einen wegzustecken. Um seinen Hals baumelt heute statt Hundemarke seine Tigerente. Geschenk einer Freundin, katholisches Jugendlager, lange her, unbedeutend jetzt. Glaubt er. Sehen die Mädels im „Tokio“ anders. Halten ihn für leicht debil und für den Rest des Abends auf Abstand. Für Herwegh läuft alles, was wir tun, in Zeitlupe ab. Biergrinsend schaut er unserem Treiben zu. Als einer seine Gläser abräumen will, eskaliert die Situation. Sein Lid flattert für eine Sekunde, während er ein langgezogenes „Moment“ brummt. Wir wissen Bescheid: Gleich gibt’s Späne. Aber der Kellner nimmt nicht nur ein Glas weg, sondern stellt auch ein neues hin. Ganz vorsichtig, die zweihundert Pfund seines Gegenübers immer im Blick. Dazu ein bombenentschärfendes Italienergrinsen, dritte Generation. Situation gerettet. Wir sind nicht die ersten Soldaten-Imitatoren in seiner Kaschemme. Heiko schleppt nach einer halben Stunde die erste Landschönheit aufs Klo ab. Kurz darauf ist er wieder bei uns und pumpt sich 20 Mark, damit er die Dame angemessen einladen kann, was aber eigentlich bezahlen heißen müsste. Reiben wir ihm unter die Nase. Interessiert ihn nicht. Belustigt uns. Ignoriert er. Beneiden wir.
Später am Abend machen wir auf ausgelassen, so gut das eben an einem Mittwochabend geht. Je lauter wir singen, desto ferner ist das Gebrüll der Zuhälter, sadistischen Drogendealer und Kampfhundezüchter mit Wehrmachts-Fetisch, die als Vorgesetzte und Ausbilder unsere Tage mit Füßen traten. Keiner singt Take me home, country road! lauter als Hegele. Herwegh pennt vor einer Box bei 120 Dezibel. Heiko lässt das berghessische Rotlicht leuchten. Ich hatte eine Freundin und genügend Schiss, es doch nicht einmal zu versuchen.
Und uns allen gab man Waffen in die Hand. War eure Entscheidung.