Mikrobi

Klagefall & Texas-Jim & Hulot

Beitrag vom 21. Dezember 2022 – 9:06 Uhr

Heute vor neunundzwanzig Jahren war das Wetter schlecht. Ich bin zur Schule gegangen, die drei Kilometer ins benachbarte Städtchen vermutlich mit dem Bus gefahren an diesem Tag so kurz vor Weihnachten. Und wahrscheinlich habe ich nicht drüber nachgedacht, weder über den üblichen Schultag noch über die anstehenden Ferien. Vielleicht war mir kalt, vielleicht habe ich mich über den Schnee gefreut.

Andernorts war zu dieser Zeit jemand schon lang im Stall, hinter dem großen, hölzernen Tor in der Wärme der Kühe, die sich unter der niedrigen Decke staute. Reif verdunkelte die einfachen Kippfenster und zauberte draußen Muster vom Lichtschein auf den Boden. Man war früh dran, denn man hatte viel vor. Vielleicht haben die Großeltern die Stallarbeit fertiggemacht, vielleicht hat es an diesem Tag nicht einmal den üblichen Kaffee und das Frühstück gereicht. Ihr habt euch früh getroffen, es gab zu tun. Schon immer waren zwei Häuser eng verbunden, durch Freundschaft und Arbeit, das Bauernhaus im Dorf hier und das Schloß auf dem Hügel, zu dem ausgedehnte Wälder gehören. Der Schnee und ein Sturm hatten einige Bäume umgeworfen, die sich ineinander verkeilten und die Wege blockierten. Das wolltest Du nicht so liegenlassen über die Feiertage, über die Zeit zwischen den Jahren, das gehörte sich nicht, denn zum Fest sollte dieser kleine Teil der Welt sauber sein und geordnet, damit wir Kinder wie immer auf dem Teppich vor dem Weihnachtsbaum uns mit Dir balgen konnten, sorglos uns in die Kraft dieses großen Mannes mit dem röhrenden Lachen und dem Schnauzbart werfen, Dir an den lockigen Haaren ziehen, bis Du uns von Deinen Schultern gepflückt und in die Luft geworfen hast, in diesem schwitzenden Spiel voller Atemlosigkeit und Lachen. Einen Hut sollte ich von Dir bekommen in diesem Jahr, einen Tirolerhut, den ich im Stall hätte aufsetzen können, weil ich so gern beim Melken den Kopf an die weichen, warmen Flanken der Kühe gelegt habe, und weil man dafür am besten einen Hut trägt, der den groben Schmutz von den Haaren fernhält.

Ich weiß nicht, was genau passiert ist, man hat es mir nie erzählt. Sicher klangen die Sägen, rauh und heiser und laut, und wie auch mir war Dir dieses Geräusch immer freundlich gesonnen. Und sicher fielen die Bäume dumpf in den Schnee und wirbelten ihn auf, und wenn ein Lichtstrahl zwischen den engstehenden Fichten hindurchschien, glitzerte die Welt. Dann liefen die Männer durcheinander, einige zu Dir, einige ins nächste Dorf, als machte der Teufel selbst ihnen Beine. Mobiltelefone gab es noch nicht, und noch heute habe ich an dieser Stelle keinen Empfang, wenn ich mich wieder einmal auf die Suche nach Deinem Gedenkstein mache. Die einen sägten und hoben weg, was auf Dir lag, die anderen keuchten an Haustüren und baten um Notrufe, lehnten sich erschöpft an die Türrahmen. Standen dann an der Straße, rannten auf und ab, um dem Rettungswagen den Weg in den Wald zu weisen. Ich weiß nicht, ob sie eine oder zwei oder noch mehr Stunden da standen, zum Warten verdammt, doch ich kann mir seitdem vorstellen, wie lang eine Ewigkeit dauert.

Ich erfuhr am Nachmittag von dem Unfall, und ich konnte mir nichts vorstellen, das Dein Lachen beeinträchtigen würde, keine Verletzung, die Dein Leuchten auch nur zum Flackern bringen könnte, keine Kraft, die Deinen Armen ebenbürtig wäre. Am Abend warst Du gestorben. An Heiligabend saßen wir Kinder am Morgen schon unter dem Baum, während die Erwachsenen Dich zu Grabe trugen. Am Abend saßen wir auf dem Teppich und weinten uns Lieder. Heute war das, vor neunundzwanzig Jahren, zur Sonnwend, am dunkelsten Tag jedes Jahres, wenn doch die Welt wieder heller werden soll.